Wie das Wiener Rote Kreuz für den Pflegebedarf der Zukunft ausbildet

Das Ausbildungszentrum des Roten Kreuzes Wien zeigt, wie berufliche Neuorientierung gelingen kann. Über das innovative Programm Jobs PLUS Ausbildung in Zusammenarbeit mit dem waff und AMS bekommen Quereinsteiger*innen nicht nur eine fundierte Ausbildung, sondern haben auch eine Jobgarantie im Pflege- und Sozialbereich.

Die Junisonne brennt auf den Asphalt der Safargasse 4 in Wien-Landstraße. Hinter der unscheinbaren Fassade des Ausbildungszentrums herrscht an diesem frühen Nachmittag konzentrierte Betriebsamkeit. In den hellen Schulungsräumen des Wiener Roten Kreuzes sitzen verschiedenste Gruppen von Auszubildenden. Manche der Teilnehmer*innen sind kaum volljährig, andere bereits in der Lebensmitte oder darüber hinweg. Was sie eint: Sie alle haben sich für eine Karriere in der Pflege entschieden.

Ein leises Lachen geht durch die Reihen. „Das ist kein echtes Blut“, werden wir Besucher*innen beruhigt, während wir der Vorbereitung von Übungsmaterialien für die praktische Übung in der Blutabnahme beiwohnen. Es ist einer jener Momente, die zeigen: Hier werden Menschen behutsam an einen Beruf herangeführt, der oft auch Überwindung erfordert.

Ein Programm mit Perspektive

Jobs PLUS Ausbildung ist eben mehr als nur die Ausbildung“, erklärt Romana Beikircher-Roch, Abteilungsleiterin beim waff. Sie koordiniert ein Programm, das in Wien neue Maßstäbe setzte.

Die Teilnehmer*innen bekommen nicht nur ihre Ausbildung finanziert und während der gesamten Dauer Geld vom AMS und waff – sie haben auch von Anfang an eine fixe Jobzusage.

Romana Beikircher-Roch

Dafür kooperiert der waff mit 77 Unternehmen und 23 Ausbildungseinrichtungen. Wer die Aufnahmeprüfung schafft und ein Unternehmen findet, das zur Übernahme nach der Ausbildung bereit ist, kann durchstarten. Die Kosten von rund 6.000 Euro etwa für die Pflegeassistenz-Ausbildung werden zu Ausbildungsbeginn vom rekrutierenden Unternehmen übernommen und bei Ausbildungsabschluss mittels waff-Zuschuss und AMS-Förderung dem Unternehmen refundiert..

Andreas Ollinger, Leiter des Ausbildungszentrums, bringt es auf den Punkt: „Wir haben eine nahezu hundertprozentige Jobgarantie. Wer bei uns abschließt, wird auch einen Job haben.“ Das Rote Kreuz allein bildet jährlich bis zu 120 Heimhelfer*innen und etwa 75 Pflegeassistent*innen aus – für den Eigenbedarf, aber auch für andere Einrichtungen.

Reality-Check: die Vielfalt der Pflegeberufe

„Viele Menschen denken bei der Pflege nur an alte Menschen“, sagt Claudia Michalica-Zottl, die Direktorin der Schule für Gesundheits- und Krankenpflege des Wiener Roten Kreuzes. Die diplomierte Gesundheits- und Krankenpflegerin mit pädagogischer Zusatzausbildung kennt alle Vorurteile und Bedenken. „Dabei bietet der Beruf so viele Einsatzbereiche – ambulanter Bereich – bei Menschen zu Hause oder der Langzeitpflegebereich – in einem Tageszentrum oder in einer Pflege- und Betreuungseinrichtung oder im Akutbereich – auf einer chirurgischen Station.“ Diese Vielfalt spiegelt sich auch in der Ausbildungspalette wider: Von der drei bis sechs Monate dauernden Heimhilfe-Ausbildung über den einjährigen Lehrgang für Pflegeassistenz bis zur zweijährigen Qualifizierung zur Pflegefachassistenz. Jede Stufe hat ihre Berechtigung, ihre spezifischen Kompetenzen – und ihre eigenen Herausforderungen.

Claudia Michalica-Zottl ist die Direktorin der Schule für Gesundheits- und Krankenpflege des Wiener Roten Kreuzes

„Eine Heimhelferin darf mittlerweile Vitalparameter messen und bei der Medikamenten-Einnahme unterstützen“, erklärt Michalica-Zottl. „Die Pflegeassistenz darf bereits Blut abnehmen und Infusionen verabreichen. Und die Pflegefachassistenz übernimmt im Krankenhaus sogar EKGs oder das Setzen von Kathetern.“ Es ist eine Art Kompetenzen-Treppe, die Entwicklungsmöglichkeiten bietet – und genau das macht den Beruf für viele Menschen attraktiv. Doch nicht jede*r ist für die Pflege gemacht. „Der erste Kontakt mit der Realität kann hart sein“, gibt Michalica-Zottl zu. „Gerüche, körperliche Anstrengung und herausfordernde Situationen wie Ablehnung – damit muss man umgehen können.“

Darum sei eine Ausbildung in der Pflege oder im sozialen Bereich heute auch kaum mehr ohne vorhergehendes „Reinschnuppern“ möglich: „Mir ist lieber, jemand merkt in dieser Zeit, dass Pflege nichts für ihn ist, als dass er nach einem halben Jahr die Ausbildung abbricht“, sagt die Direktorin pragmatisch. Die Erfahrung gibt ihr recht: Wer nach dem Vorbereitungskurs in die Ausbildung geht, bleibt meist auch dabei.

Integration durch Ausbildung

Was das generelle Interesse am Beruf angeht, sprechen die Zahlen jedenfalls für sich: Pro Pflegeassistenz-Lehrgang bewerben sich 120 Personen, aufgenommen werden 25 bis 30. Der Blick in die Klassenzimmer zeigt außerdem, dass die Pflegeausbildung tatsächlich zu einem wichtigen Integrationsinstrument geworden ist. „95 Prozent unserer Auszubildenden haben Migrationshintergrund“, berichtet Michalica-Zottl. Viele kamen mit der Flüchtlingsbewegung 2015/16. Sie haben oft jahrelang auf ihren Asylbescheid gewartet, Deutsch gelernt und suchen nun eine berufliche Perspektive. „Die Deutschkenntnisse sind oft die größte Herausforderung“, bestätigt Beikircher-Roch. „Man braucht nicht nur Alltagssprache, sondern muss auch Pflegefachsprache lernen und Dokumentationen schreiben können.“ Der waff hat reagiert: Zusätzliche Deutschkurse werden gefördert, um allen die Teilnahme an einer Ausbildung zu ermöglichen und die Erfolgsquote zu erhöhen.

Stimmen aus der Praxis

Im Aufenthaltsraum treffen wir Natascha Bauer. Der Weg der 25-Jährigen in die Pflege war alles andere als geradlinig: „Ich habe zuerst eine Lehre als Automechanikerin gemacht“, erzählt sie. „Kurz vor Abschluss wurde ich schwanger.“ Es folgte eine Zeit der Neuorientierung. Als ihre Großmutter zum Pflegefall wurde und die Familie keinen Heimplatz fand, übernahm Natascha gemeinsam mit ihrem Vater die Pflege. „Da ist die Liebe dazu entstanden“, sagt sie schlicht. Nach der Heimhilfe-Ausbildung arbeitete sie ein Jahr – mobil und stationär. Jetzt macht sie den nächsten Schritt, während einer Bildungskarenz und mit Unterstützung ihres Arbeitgebers.

„Mit zwei Kindern ist das nicht immer einfach“, gibt sie zu. Die vier- und sechsjährigen Sprösslinge brauchen viel Aufmerksamkeit. „Aber wenn man etwas wirklich will, dann zieht man alle Register.“ Ihr Plan ist ehrgeizig: Nach der Pflegeassistenz will sie die Berufsreifeprüfung machen, um dann Pflegewissenschaften zu studieren.

Natascha Bauer zeigt, dass der Weg in die Pflege nicht immer geradlinig ist.

Ihre Kollegin Tatjana Ploszajski nickt verständnisvoll. Die erfahrene Heimhelferin, die seit fast zehn Jahren beim Roten Kreuz arbeitet, kennt die Schwierigkeiten der Balance zwischen Familie und Beruf. Aber: „Man findet immer eine Lösung“, sagt sie bestimmt. Ihr Mann ist Krankenpfleger, das habe sie damals für diese Arbeit interessiert und begeistert. Mittlerweile arbeite die halbe Verwandtschaft im Gesundheitsbereich.

Sehr unterschiedlich sehen die beiden Frauen ihren Arbeitsbereich. Während Bauer die Arbeit im Pflegeheim bevorzugt („Ich brauche Action.“), schwört Ploszajski auf die mobile Pflege. „Im Heim fühlte ich mich wie eingesperrt“, erklärt sie. „Kaum bist du bei einem Bewohner fertig, läutet schon die nächste Glocke.“ In der Hauskrankenpflege sei das anders: „Du hast deine Abwechslung, verschiedene Touren, Zeit zum Durchatmen zwischen den Klienten.“ Diese Momente der Ruhe brauche sie, um sich mental auf die nächste Person einzustellen. „Und du triffst Entscheidungen selbstständig, bist deine eigene Chefin.“

Attraktivierung der Arbeitsplätze

Zurück bei den drei Branchen-Expert*innen wird die Diskussion grundsätzlicher. Kann Wien seinen Pflegebedarf decken? „Wir müssen an zwei Stellschrauben drehen“, analysiert Beikircher-Roch. „Erstens: kontinuierlich ausbilden und Menschen für diese Berufe motivieren. Zweitens: sie im Beruf halten.“

Die Fluktuation ist ein Problem, das auch Michalica-Zottl Sorgen macht: „Im Rahmen der Ausbildung lernen die Teilnehmer*innen verschiedene Bereiche kennen. Da werden natürlich auch immer wieder Leute angeworben.“ Das ist ein zweischneidiges Schwert: Einerseits sollen die Auszubildenden ja die Vielfalt der Pflege kennenlernen, aber andererseits hofft jedes Unternehmen auch auf die Loyalität der (künftigen) Mitarbeiter*innen, zu deren Ausbildungskosten sie beitragen.

„Die Arbeitgeber haben dazugelernt“, betont Ollinger. „Flexible Arbeitszeitmodelle, Gleitzeitregelungen, bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf – das gab es früher nicht.“ Auch die Möglichkeiten zur Weiterbildung seien vielfältiger geworden. Man müsse auch nicht zwingend aufsteigen. Auch als Pflegeassistent*in kann man sich spezialisieren.

Ein Beruf mit Sinn

Am Ende des Gesprächs mit den Lehrgangsteilnehmerinnen wird es persönlich. Was raten Tatjana Ploszajski und Natascha Bauer jenen Menschen, die über einen Einstieg in die Pflege nachdenken? „Es muss sich gut anfühlen“, sagt Ploszajski eindringlich. „Pflege ist mehr, als nur alte Menschen zu waschen. Es ist ein krisensicherer Beruf, der einen innerlich erfüllt.“ Bauer wird noch konkreter: „Als ich meine erste Leiche gesehen habe, war ich schockiert. Aber im Inneren wusste ich: In der Pflege geben wir unser Bestes für jeden Menschen. Man muss für diesen Job leben.“