Wir haben keine Krise, aber wir sehen große Herausforderungen
Sandra Frauenberger leitet seit Ende 2018 den Dachverband Wiener Sozialeinrichtungen. Im Interview spricht sie über den demografischen Wandel, neue Ansätze in der Pflege und erklärt, warum Wien trotz großer Herausforderungen gut gerüstet ist.
Frau Frauenberger, was genau macht der Dachverband Wiener Sozialeinrichtungen?
Wir sind in fünf Bereichen der Wiener Sozialwirtschaft tätig: Pflege und Betreuung – sowohl mobil als auch stationär –, Behindertenarbeit, Wohnungslosenhilfe, Flüchtlingshilfe sowie Sucht- und Drogenarbeit. Wir haben 106 Mitgliedsorganisationen mit insgesamt mehr als 30.000 Beschäftigten. Darunter sind große Organisationen aus dem Pflegebereich, von der Volkshilfe und Caritas bis hin zu kleinen Einrichtungen für spezielle Zielgruppen. Wir verstehen uns als Vernetzungsplattform, aber auch als Lobbyistin für diese Organisationen. Die Mitgliedsbeiträge bemessen sich nach den jeweiligen Vollzeit-Äquivalenten. Damit decken wir aber nur einen Teil unseres Budgets ab – der Rest kommt von der Stadt Wien.
Wie stellt sich die aktuelle Situation der Wiener Pflege- und Soziallandschaft dar? Gerade auch hinsichtlich der jüngeren Erfahrungen aus der Covid-19-Pandemie?
Es hat sich zuletzt sicherlich viel verändert. Unsere Organisationen professionalisieren sich zunehmend auch außerhalb ihrer Kernaufgaben, zum Beispiel im Bereich HR oder bei der Digitalisierung. Sie tragen aber auch die Anspannung und Erschöpfung nach der Pandemie teilweise noch in sich – das ist strukturell spürbar. Was wir versuchen, ist durch verbesserte Rahmenbedingungen und Ausbildungen dafür zu sorgen, dass sich die Mitarbeiter*innen wieder auf ihre Kernaufgaben konzentrieren können. Menschen gehen in den Sozialbereich, weil sie etwas tun möchten, das sie als sinnstiftend erachten. Wenn aber Stress, Personalmangel und Bürokratie überhandnehmen, rücken die Kernaufgaben in den Hintergrund. Gleichzeitig verändern sich die Bedürfnisse sowohl bei Klientinnen und Klienten als auch bei den Mitarbeitenden. Wir haben heute eine digitalisierte Generation von Klient*innen und eine immer selbstbewusstere Mitarbeiterschaft, die autonomer und flexibler arbeiten möchte. Diese scheinbar gegensätzlichen Wünsche passen aber gut zusammen: Es wollen nicht mehr alle Klient*innen um 6:30 Uhr gepflegt werden, und nicht alle Mitarbeitenden wollen – oder können – zu dieser Zeit schon arbeiten.

Der demografische Wandel wird zur großen Herausforderung: Wie wirkt sich das auf den Pflegebedarf aus?
Wir haben eine detaillierte Personalbedarfs-Prognose erstellt und darauf aufbauend den Prozess „Pflege Zukunft Wien“ gestartet. Dieser behandelt Themen wie Arbeitszeit, Digitalisierung, berufliche Rahmenbedingungen und Ausbildung, um uns für den demografischen Wandel zu rüsten. Es geht dabei nicht nur darum, dass die Babyboomer-Generation pflegebedürftig wird, sondern auch darum, wie weit wir durch Prävention die gesunden Lebensjahre verlängern können. Wir stellen fest, dass Menschen immer später in Pflegewohnhäuser kommen – dann aber mit einem höheren Pflegebedarf als früher. Das verändert die Anforderungen unserer Ausbildungen – bestimmte Basisqualifikationen reichen da mitunter nicht mehr aus. Deswegen war es rückblickend auch gut und richtig, dass wir die Pflege akademisiert haben.
In der Personalbedarfs-Prognose von 2018 war von 9.121 zusätzlichen Pflegekräften bis 2030 die Rede. Wie sehen die aktuellen Zahlen aus, wird diese Zahl den Entwicklungen seither gerecht?
Unsere neue Prognose reicht bis 2040 und im Juni konnten wir unseren Mitgliedsorganisationen und verschiedenen Stakeholdern bereits erste Ergebnisse präsentieren. Was ich schon verraten kann: Unsere bisherigen Maßnahmen haben gewirkt. Mit den laufenden Aus- und Weiterbildungsinitiativen des waff, der FH Campus Wien und den Ausbildungsstätten unserer Organisationen werden wir den Bedarf decken können. Ich rede nichts schön, aber eben auch nicht schief – eine „Krise“ haben wir nicht, aber wir sehen großen Herausforderungen entgegen. Dabei müssen wir auch bedenken: Mehr Ausbildungsplätze bedeuten einen erhöhten Ressourcenbedarf – es braucht mehr Raum, mehr Lehrende und mehr Anleitende in der Praxis. Jede Praktikantin, jeder Praktikant kostet im Pflegebetrieb aber auch wieder Zeit und lokale Ressourcen – das wollen unsere Mitglieder natürlich abgegolten haben. Ein weiteres Problem: Viele hochqualifizierte Absolventinnen und Absolventen gehen zunächst ins Krankenhaus, um quasi den „Emergency-Room“ zu sehen. Erst später fühlen sie sich sicher genug für die mobile Pflege, wo man ja weitgehend allein arbeitet.
Wie bedeutend ist das waff-Programm „Job PLUS Ausbildung“ für den Pflegebereich?
Es hat eine enorme Bedeutung. Die Stadt Wien und der waff haben einen wichtigen Schritt getan, um sich gezielt auf die Sozialwirtschaft zu fokussieren und durch Förderungen eben auch zusätzliche und neue Ausbildungsangebote zu ermöglichen. Die Unternehmen in der Wiener Sozialwirtschaft sind durch Tarife und Fördergelder in ihrer Beweglichkeit eingeschränkt – dieses Programm unterstützt sie. Was beim waff besonders gut funktioniert: Er werden Ideen ausprobiert, die Ergebnisse werden evaluiert und die Programme entsprechend angepasst. Diese Zusammenarbeit zwischen Organisationen, Fördergebern, dem waff und uns als Dachverband macht den großen Gesamterfolg aus. Wir haben jedenfalls sehr gute Erfahrungen damit gemacht, Menschen im zweiten Berufsweg für den Pflegebereich zu gewinnen.
In der Personalbedarfs-Prognose von 2018 war von 9.121 zusätzlichen Pflegekräften bis 2030 die Rede. Wie sehen die aktuellen Zahlen aus, wird diese Zahl den Entwicklungen seither gerecht?
Unsere neue Prognose reicht bis 2040 und im Juni konnten wir unseren Mitgliedsorganisationen und verschiedenen Stakeholdern bereits erste Ergebnisse präsentieren. Was ich schon verraten kann: Unsere bisherigen Maßnahmen haben gewirkt. Mit den laufenden Aus- und Weiterbildungsinitiativen des waff, der FH Campus Wien und den Ausbildungsstätten unserer Organisationen werden wir den Bedarf decken können. Ich rede nichts schön, aber eben auch nicht schief – eine „Krise“ haben wir nicht, aber wir sehen großen Herausforderungen entgegen. Dabei müssen wir auch bedenken: Mehr Ausbildungsplätze bedeuten einen erhöhten Ressourcenbedarf – es braucht mehr Raum, mehr Lehrende und mehr Anleitende in der Praxis. Jede Praktikantin, jeder Praktikant kostet im Pflegebetrieb aber auch wieder Zeit und lokale Ressourcen – das wollen unsere Mitglieder natürlich abgegolten haben. Ein weiteres Problem: Viele hochqualifizierte Absolventinnen und Absolventen gehen zunächst ins Krankenhaus, um quasi den „Emergency-Room“ zu sehen. Erst später fühlen sie sich sicher genug für die mobile Pflege, wo man ja weitgehend allein arbeitet.

Unterscheidet sich die Pflegesituation in Wien von jener in den anderen Bundesländern?
Der Vergleich ist schwierig, weil das Wiener Sozialwesen in vielen verschiedenen Systemen innerhalb der Stadt eingebettet ist. Vom Wohnbedarf über Therapie bis hin zur persönlichen, und eben auch pflegenden, Betreuung – alles hängt zusammen und wirkt ineinander. Es ist immer eine andere Situation, wenn man im urbanen Raum oder eben auf dem Land pflegt. In Wien leben tausende Menschen in kleinen Wohnungen, die eine 24-Stunden-Betreuung räumlich gar nicht zulassen. Man braucht also die mobile Pflege. Unser System stellt sicher, dass niemand im Krankenhaus bleiben muss, nur weil die Vor-Ort-Betreuung fehlt.
Angesichts der großen körperlichen und psychischen Belastung stellt sich die Frage, ob die Pflege noch ein Beruf fürs ganze Leben ist?
Es ist natürlich stark herausfordernd. Im Krankenhaus ist es stressig, in Pflegewohnhäusern belastend – weil man mit seiner Arbeit sehr oft mit Menschen arbeitet, deren Gesundheitszustand sich nicht mehr verbessern wird. In der mobilen Pflege kommen lange Wege, die Witterung und Sicherheitsthemen hinzu. Unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter treffen hierbei auch zunehmend mehr auf prekäre soziale Verhältnisse und psychische Erkrankungen. Wir haben gemeinsam mit unseren Mitgliedsorganisationen in den letzten Jahren viel daran gearbeitet, um die Rahmenbedingungen für die Mitarbeiter*innen zu verbessern. Die Zahlen der aktuellen Personalbedarfsprognose zeigen, dass die Kolleg*innen, zumindest in unserem Bereich der Langzeitpflege, länger im Job bleiben und auch die durchschnittliche Wochenarbeitszeit im Vergleich zur letzten Erhebung gestiegen ist. Eine Lösung könnte sein, dass Pflegekräfte zwischen verschiedenen Pflegesettings rotieren, und dass wir zudem wirkungsvolle betriebliche Gesundheitsmaßnahmen anbieten.
Welche Rolle spielen technologische Innovationen im Pflegebereich?
Das größte Potenzial liegt sicher nicht im viel zitierten Pflegeroboter, sondern vielmehr darin, Pflegekräfte in den Bereichen Organisation und Dokumentation sowie der strukturellen Arbeit zu unterstützen. Wir haben mit unseren Organisationen eine Onboarding-App entwickelt, die Anleitungen bietet und dem bzw. der Einzelnen die Kommunikation mit erfahrenen Fachkräften ermöglicht. Mit der FH Technikum Wien haben wir außerdem ein Tool für die barrierearme Kommunikation in sechs Sprachen entwickelt, das mit Symbolen arbeitet. Und beim Forschungsforum der Österreichischen Fachhochschulen wurden Bewegungsprogramme mit Avataren vorgestellt, die Patientinnen und Patienten zu mehr Bewegung animieren. Wir brauchen auf jeden Fall einen Digitalisierungsfonds, damit diese Entwicklungen nicht auf Kosten des Sozialbudgets gehen müssen. Im internationalen Vergleich sehen wir etwa in den Niederlanden mit dem Buurtzorg-Modell, wie autonome Teams funktionieren können – ein Ansatz, den wir integriert haben, um attraktiv zu bleiben.
Abschließend: Was möchten Sie Menschen mitgeben, die sich für den Pflegebereich interessieren?
Der Sozialbereich, speziell in Pflege und Betreuung, ist unglaublich vielfältig – von der Hospiz-Palliativstation bis zur Betreuung von Menschen mit verschiedenen, komplexen Problemlagen. Es ist eine wertvolle, sinnstiftende Arbeit. Man kann mit einer kurzen Ausbildung einsteigen, sich aber bis zum Hochschulstudium qualifizieren. Die Durchlässigkeit des Systems ermöglicht Karrieren in verschiedensten Bereichen und Richtungen.