Pflege unter Druck: Warum der demografische Wandel doppelt trifft

Hintergrundwissen

Das Wiener Pflegesystem steht aufgrund des demografischen Wandels zunehmend unter Druck. Eine Pensionierungswelle rollt auf den Pflegesektor zu und verschärft bereits bestehende Personalengpässe. Gleichzeitig erhöht sich der Druck durch einen gesteigerten Bedarf an Pflegeleistungen der mit der Alterung der Bevölkerung einhergeht. Dabei stellt sich die Frage, welche spezifischen Herausforderungen aktuell und zukünftig in Wien vorliegen und wie die Pflegeversorgung zukunftsorientiert gestaltet werden kann.

Wie steht es aktuell um das Pflegepersonal in Wien?

Die Wiener Pflegebranche ist gekennzeichnet von einer deutlichen Alterszentrierung: Zwar sind stationäre Einrichtungen durch einen höheren Anteil jüngerer Arbeitskräfte charakterisiert, jedoch weisen die Bereiche der Pflege- und Altenheime sowie Behinderten- und Altenwohnheime einen hohen Anteil älterer Mitarbeiter*innen auf. Die Altersgruppe 55+ macht insgesamt 34,3 % der Beschäftigten im Bereich der Pflege aus, wobei in Pflegeheimen 19,6 % der Mitarbeiter*innen 55 Jahre oder älter sind und in Altenheimen und Alten-/Behindertenwohnheimen 21,5 %. Demnach gilt es besonders den Bereich der Langzeitpflege ins Visier der Fachkräftesicherung in Wien zu nehmen, wo laut aktuellen Personalbedarfsberechnungen ein Zusatzbedarf von 858 Personen besteht. Der Pflegeberuf ist zudem ein klassischer Frauenberuf: Im Jahr 2023 machten Frauen 71,4 % der unselbstständig Beschäftigten aus.

Die Pflege als zentraler gesellschaftlicher Pfeiler

Pflege wird allgemein dann benötigt, wenn physische oder psychische Beeinträchtigungen bestehen. Sie kann entweder ambulant, in den eigenen vier Wänden oder (teil-)stationär in Pflegeheimen oder Tageszentren in Anspruch genommen werden. In Österreich wird Pflegearbeit viel von Familienmitgliedern, oftmals Frauen, geleistet, wodurch die professionalisierte Pflege eine zentrale gesellschaftliche Funktion in der Versorgung von Betroffenen und Entlastung von pflegenden Angehörigen erfüllt. Sie ist auch ein wichtiger Baustein im Streben nach Geschlechtergerechtigkeit und Vereinbarkeitspolitik.

Wiens demografische Sonderstellung im Land

Wien hat in den letzten Jahrzehnten ein starkes Bevölkerungswachstum erlebt. Seit den 1990er Jahren ist die Bevölkerung um knapp 500.000 Menschen gewachsen und hat 2023 die Marke von 2 Millionen Einwohnern überschritten. Dabei wächst Wien seit den 1990er Jahren tendenziell stärker als die anderen Bundesländer. Vor allem durch den Zuzug aus EU-Staaten aufgrund der EU-Osterweiterung zur Jahrtausendwende und zum Höhepunkt der Fluchtmigration 2015/16 wurden besonders hohe Zuwächse verzeichnet. Im Vergleich zum Jahr 2013 lässt sich somit für das Jahr 2023 ein Anstieg der Erwerbsbevölkerung um 14 % feststellen. Wien unterscheidet sich neben dem schnelleren Bevölkerungswachstum auch in seiner Alterszusammensetzung von den anderen Bundesländern: Seit 2007 nimmt der Anteil an 15- bis 24-Jährigen in Wien kontinuierlich zu, während er in den anderen Bundesländern sinkt. Damit ist das Durchschnittsalter seit 2018 in Wien niedriger als im restlichen Land.

Demografischer Wandel

Der demografische Wandel beschreibt die Veränderung der Bevölkerungsstruktur über die Zeit. Geburten- und Sterberaten sowie Wanderungen beeinflussen diese Entwicklung. Eine markante demografische Entwicklung in Österreich ist die zunehmende Alterung der Bevölkerung. Damit gehen erhebliche Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt einher: Erstmals stellt sich die Herausforderung, dass die Babyboomer-Generation der 1960er-Jahre in den kommenden Jahren aus dem Arbeitsmarkt ausscheiden wird, während die nachrückenden Jahrgänge deutlich zahlenschwächer sind und diese Abgänge nicht kompensieren können.

Doppelbelastung der Pflege: zukünftige demografische Entwicklungen und ihre Auswirkungen

Ein Blick auf die prognostizierte demografische Entwicklung der Statistik Austria zeigt, dass die Sonderstellung Wiens gegenüber den restlichen Bundesländern bestehen bleibt. Die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter wird in Wien weiterhin zunehmen, während sie im restlichen Land zunehmend schrumpfen wird. Auch die unselbstständig Beschäftigten in Wien werden sich im Vergleich zu den anderen Bundesländern durch ein weiterhin relativ junges Alter auszeichnen.

Allerdings kann dabei nicht von der Hand gewiesen werden, dass auch in Wien altersbedingte Arbeitsmarktbelastungen bevorstehen. Gerade in der Pflegebranche werden zwei demografische Herausforderungen tragend, wie eine aktuelle Studie des WIFO erkennbar macht: Zum einen zeichnet sich dieser Bereich mit einem Drittel an Arbeitskräften über 55 Jahren durch einen relativ hohen Anteil älterer Arbeitskräfte aus, sodass in den nächsten zehn Jahren mit vielen Pensionierungen und einem damit einhergehenden Mangel an qualifizierten Fachkräften zu rechnen ist. Zum anderen steigt mit einer alternden Bevölkerung die Zahl der Pflegebedürftigen: Die aktuelle Bevölkerungsprognose der Statistik Austria vom November 2024 schätzt, dass sich die Zahl der Personen im Alter von 85 Jahren und älter von rund 36.000 im Jahr 2023 auf 73.000im Jahr 2043 verdoppeln wird. Dies erfordert mehr Pflegeleistungen und belastet das bestehende System. Das zeigt sich bereits in der Entwicklung der Pflegegeldbezieher*innen: Aktuell beziehen rund 91.500 Wiener*innen Pflegegeld, was einem Anstieg von knapp 7% im Vergleich zum Jahr 2014 ausmacht. Die Pflegepersonalbedarfsprognose des Dachverbands der Wiener Sozialeinrichtungen veranschaulicht zudem in ihrer Vorschau, dass zukünftige Pensionierungen und die demografische Alterung die Einstellung von insgesamt 5.770 Pflege- und Betreuungspersonen bis 2030 erforderlich machen.

Eine Pflegerin hält die Hände eines Klienten in ihren eigenen Händen.
Der Demografische Wandel belastet das Gesundheitssystem in Wien gleich doppelt.

Somit sieht sich der Pflegebereich mit einer doppelten Belastung konfrontiert: Ein erhöhter Bedarf an Pflegekräften trifft auf Personalengpässe und Fachkräftemangel. Für Pflegepersonal bedeutet dies eine Verdichtung der Arbeitszeiten und erhöhte Belastungen. Das Pflegesystem ist dadurch auch stärker auf unbezahlte Pflegearbeit von großteils weiblichen Angehörigen angewiesen.

Ansätze zur Bewältigung der Herausforderungen der Fachkräftesicherung in der Pflege

Um diesen Herausforderungen zu begegnen, ist es notwendig, eine fundierte Datengrundlage zu schaffen. Gezielte Studien und Analysen zur aktuellen und künftigen Bedarfssituation von Fachkräften im Pflegebereich, ebenso wie der Wirksamkeit von implementierten Maßnahmen sind gefragt, um den Fachkräftemangel besser verstehen zu können und ihm entgegenzuwirken. Aufbauend auf diesen Erkenntnissen muss an unterschiedlichen Hebeln der Fachkräftesicherung angesetzt werden. Zumal der Wiener Arbeitsmarkt im Vergleich zu den anderen Bundesländern ein großes Potenzial an jungen Arbeitskräften bietet, ist die Mobilisierung für die Ausbildung von Pflegepersonal besonders wichtig. Dabei sollten junge Menschen auch möglichst in der Ausbildung gehalten und Möglichkeiten zu Aus- und Weiterbildungen für Personen, die bereits im Gesundheitswesen tätig sind, gefördert werden. Um bestehendes Personal im Beruf zu halten, können Verbesserungen der Arbeitsbedingungen, bessere Bezahlung oder flexiblere Arbeitszeiten als Unterstützungsmaßnahme umgesetzt werden. In der strategischen Fachkräftesicherung sind allgemein drei Handlungsfelder von zentraler Bedeutung: Qualifizierung, Mobilisierung und Bindung von Fachkräften.

Darauf aufbauend sind folgende Maßnahmen zur Bewältigung der Doppelbelastung des Pflegebereichs zu empfehlen:

Mit der Sonderstellung Wiens, besteht großes Potenzial darin, junge Menschen in Ausbildung zu bringen und möglichst viele Abschlüsse zu begünstigen. Sensibilisierung für unterschiedliche Berufsfelder in der Pflegebranche sind dabei ein erster wichtiger Schritt. Um Zugangsbarrieren zu Ausbildungen abzubauen, können Unterstützungen in Form von Übernahme der Ausbildungskosten und Stipendien für Lebensunterhaltungskosten eingesetzt werden. Ebenso ist eine Aufstockung von Ausbildungsplätzen und Verbesserung der Ausbildungsrahmenbedingungen sinnvoll.

Neben der Verbesserung und dem Ausbau von Ausbildungen, ist auch der Bereich der (Höher-)Qualifizierung von Personen, die bereits im medizinischen Bereich oder schon in der Pflegebranche tätig sind, ein wichtiges Handlungsfeld der Fachkräftesicherung. Neben der Aufstockung von Ausbildungsplätzen sollte auch die Qualität der Ausbildung stetig verbessert werden. Bereits bestehende Initiativen in diesem Bereich ist die Ausbildungsoffensive Pflege Zukunft Wien und das Programm Jobs PLUS Ausbildung, das eine kostenlose Ausbildung mit fixem Job im Anschluss anbietet. Zudem ist Höherqualifizierung ein wichtiges Tool in der Bindung von Mitarbeiter*innen und der beruflichen Weiterentwicklung. Dafür sind Investitionen in die Ausbildung und kontinuierliche Weiterbildung entscheidend. Speziell im stark alterszentrierten Pflegebereich sind diese Maßnahmen notwendig, um den erforderlichen Ersatzbedarf zu decken und den Pflegeberuf in seiner Attraktivität weiter zu steigern.

Verbesserte Arbeitsbedingungen können dem Ziel der Fachkräftesicherung auf zwei Ebenen nachkommen. Einerseits können im Sinne der Fachkräftesicherungsstrategie der Mobilisierung neue Mitarbeiter*innen gewonnen werden. Dafür sind bereits erfolgreiche Image- und Informationskampagnen wie #WissenSchaftPflege der Pflege Zukunft Wien Initiative oder Nicht wieder Mary gute Beispiele, wie Aufmerksamkeit und Ansehen des Pflegeberufs verbessert werden können. Andererseits können verbesserte Arbeitsbedingungen die Bindung von bereits bestehenden Mitarbeiter*innen stärken. Aufgrund von akuten Arbeitszeitverdichtungen und erhöhter Belastung hat Personalaufstockung eine hohe Priorität im Bereich der Verbesserung von Arbeitsbedingungen. In weiterer Folge können bessere Bezahlung, flexiblere Arbeitszeiten und Vereinbarkeitsverbesserung als unterstützende Maßnahmen wirken. Auf den Bereich der 24h-Pflege sollte zudem besonderes Augenmerk gelegt werden. Der Ausbau der Regulierung des Vermittlungsgewerbes sowie die Schaffung unabhängiger Beratungsmöglichkeiten und Qualitätsprüfung sind hier zentrale Handlungsempfehlungen.

Eine weitere wichtige Zielgruppe in der Sicherung von Fachkräften im Pflegebereich sind bereits erwerbstätige Personen. Dabei können aber nicht nur branchenferne Personen angesprochen, sondern auch Personal für den Pflegbereich gewonnen werden, das bereits im Gesundheitsdienst tätig ist, aber einen neuen Bereich kennen lernen will. Neben Personal aus dem Krankenhausbereich, könnte auch ein Wechselarbeitsmodell zwischen mobiler und stationärer Pflege angedacht werden. Mit diesem Modell könnten mit Bedacht auf persönliche Lebensumstände individuelles Streben nach beruflicher Umorientierung gefördert und wichtige Fachkräfte gesichert werden

Pflegende Angehörige leisten einen wichtigen Beitrag in der Abdeckung des Pflegebedarfs und ergänzen somit die professionalisierte Pflege. Um Familienangehörigen und anderen pflegenden Personen weiterhin die Versorgung möglich zu machen sind Unterstützungsangebote von zentraler Bedeutung. Dazu zählen Beratungsangebote durch Fachkräfte, beispielsweise zu Pflegeleistungen oder Entlastungsmöglichkeiten. Zudem sind zeitlich befristete Pflegeübernahmen zu begrüßen. Diese machen Ruhephasen möglich und beugen physischen und psychischen Überlastung vor.

Der gezielte Einsatz von Technologien kann ein wichtiger Beitrag zur Sicherung von Fachkräften in der Pflege darstellen. Moderne technologische Unterstützung durch Telemedizin oder Pflegeroboter bergen das Potenzial, Pflegekräfte zu entlasten und Effizienz von Arbeitsprozessen zu steigern. Ein bereits bekanntes Beispiel für technologische Innovation in der Pflege ist der therapeutische Roboter „PARO“, eine für den Bereich der Demenzbetreuung entwickelte Stofftierrobbe. Mit Hilfe künstlicher Intelligenz leistet „PARO“ vor allem im Bereich der psychosozialen Betreuung für Entlastung der Pflegekräfte. Pflegeberufe gehen oft mit starker körperlicher Belastung einher. Hier können moderne Assistenzsysteme wie Exoskelette Unterstützung bieten. In jedem Fall ist bei der Einführung neuer Technologien die Einbindung von Pflegepersonal in den Prozess der Auswahl und Einschulung von zentraler Bedeutung.